Schwäbisches Tagblatt, 16.03.2016
Edzard Reuter und Ahmet Arpad sprachen im Hirsch über ihre besondere Beziehung zur Türkei. Was bedeutet Heimat für Menschen, die geflohen sind? Und wie kann die Integration von Zuwanderern gelingen? Darüber diskutierte der ehemalige Vorstandschef der Daimler-Benz AG Edzard Reuter am Montag mit dem Journalisten und Übersetzer Ahmet Arpad.
Philipp Koebnik
Tübingen. Wohl vor allem wegen ihm waren am Montag knapp 100 Interessierte in die Begegnungsstätte Hirsch gekommen: Edzard Reuter, ehemaliger Vorstandsvorsitzender der Daimler-Benz AG und Bestseller-Autor. "Es ist sehr schön, nach 55 Jahren wieder einmal in Tübingen zu sein", freute er sich.
Edzard Reuter wurde 1928 als zweiter Sohn von Ernst Reuter, dem ehemaligen Regierenden Bürgermeister Westberlins, geboren. Vor den Nazis floh der sozialdemokratische Vater mit der Familie 1935 in die Türkei. "Es war eine Flucht, aber ganz anders als das, was die Menschen durchmachen, die heute in Europa Schutz suchen", sagte Reuter. Die Familie fuhr "hochbequem mit dem Orientexpress" nach Istanbul. "Für mich als Kind war das ein Abenteuer, ständig unbekannte Städte zu sehen und die wechselnden Passagiere zu beobachten", erinnerte sich der 88-Jährige.
Die Familie ging nach Ankara, wo Reuter aufwuchs. Schon nach wenigen Tagen habe er Kontakt zu anderen Kindern gefunden. "Wir haben uns mit Händen und Füßen verständigt." Er gewann schnell Freunde, spielte mit den anderen Jungen Fußball. Und schnell lernte er auch die Sprache. "Ich fühlte mich unter meinen Freunden zu Hause, das war meine Welt." Mit 18 Jahren ging er zurück nach Deutschland, wo er Mathematik und Physik studierte. Im Jahr 1946 trat er der SPD bei. Seit 1964 arbeitete er bei Daimler, von 1987 bis 1995 war er Vorstandschef der Daimler-Benz AG. Die Türkei blieb dabei immer seine "zweite Heimat", wie er sagt. "Nicht auf abstrakte Weise - ich fühle mich den türkischen Menschen verbunden." Vor allem die Gastfreundschaft hat ihn nachhaltig beeindruckt.
Der 1942 geborene Arpad wuchs in Istanbul auf, wo er ein deutsches Gymnasium besuchte. Sein Vater hatte als junger Mann seine Liebe zur deutschen Sprache entdeckt, die er an die Kinder weitergeben wollte. "Ich habe schon früh die deutsche Kultur und Mentalität kennengelernt, vor allem über meine Lehrer."
Mit 26 Jahren ging er in die Bundesrepublik, um eine Ausbildung zum Hotelfachmann zu machen. Bald jedoch fing er an, als Journalist für verschiedene - vor allem türkische - Zeitungen zu arbeiten und zu fotografieren. Außerdem hat er sich einen Namen als Übersetzer gemacht. Mehr als 50 deutschsprachige Bücher übertrug Arpad ins Türkische, darunter Werke von Stefan Zweig und Heinrich Böll. Für ihn sind die Türkei und Deutschland gleichermaßen Heimat. Mehrere Monate im Jahr verbringt er in dem Land am Bosporus.
Als Reuter 1946 in Deutschland ankam, sah er die vielen Flüchtlinge aus dem ehemaligen deutschen Osten. Sie hausten unter unwürdigen Bedingungen in Massenunterkünften - willkommen waren sie nicht. "Mir wurde klar, wie wunderbar Menschen miteinander teilen können, wie hässlich sie sich aber auch benehmen können."
Flüchtlinge sind keine anonyme Masse
Mit Blick auf die aktuelle Fluchtbewegung nach Europa und die Situation an der mazedonischen Grenze sagte Reuter, es werde oft vergessen, "dass es sich um Menschen handelt, nicht um eine anonyme Masse". Auf den Einzelnen und seine Geschichte einzugehen sei jedoch notwendig - und möglich.
Arpad und Reuter lernten sich 1996 kennen. Beide wollten etwas tun, um das Zusammenleben von Deutschen und Türken zu verbessern. Sie waren 1999 Mitbegründer des Stuttgarter Forums für deutsch-türkische Kulturbegegnung, das heute über 400 Mitglieder zählt.
Beide kritisierten eine gewisse "Gutgläubigkeit" unter den Politikern und den Kirchen, was den Umgang mit türkisch-muslimischen Organisationen angeht. Bei der Suche nach Gesprächspartnern dürfe man nicht unkritisch sein. Von der islamistisch orientierten Gülen-Bewegung beispielsweise müsse man sich distanzieren. Einig waren sie sich darin, dass Integration keine Einbahnstraße sei. Damit sie gelingt, müssten "beide Seiten" aufgeschlossen sein und ihren Beitrag leisten.
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