Die Islamisten-Organisation Milli Görüs wirkt der Integration türkischer Mitbürger entgegen / Von Ahmet Arpad
Stuttgart/Köln - Von dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das im Fall der Zeugen Jehovas die Voraussetzungen für die Anerkennung als religiöse Gemeinschaft neu definierte, könnten auch islamische Gruppierungen in Deutschland profitieren. Würde auch die islamistische Milli Görüs als Religionsgemeinschaft anerkannt?
Vor der Europazentrale in Köln wehen die Milli-Görüs-Fahnen - ein grünes Quadrat auf weißem Grund zeigt Europa und den Kaukasus, von einem Halbmond umfasst. Denkt die Islamische Gemeinschaft Nationale Sicht (Milli Görüs) auch politisch in Richtung Pantürkismus und -islamismus?
Auch in Köln ist der Hauptsitz des Verbands Islamischer Kulturzentren (VIKZ). Man residiert in einem etwa 2000 Quadratmeter großen Komplex. Außer den Verwaltungs- und Schulungsräumen gibt es auch ein Internat mit 80 Schlafplätzen und eine große Moschee. Das geräumige Büro des Generalsekretärs Erol Pürlü darf man nur in Socken betreten wie in einer Moschee. Auf Stuttgart-Heslach angesprochen, sagt Pürlü: „So viel Probleme wie die Stuttgarter uns bereiten, haben wir in keiner anderen Stadt Deutschlands.“
In derEuropazentrale von Milli Görüs ist von der Verwaltung bis zum Immobilien-Marketing alles untergebracht, was eine „weltumspannende“ Organisation braucht. Im Buchladen werden neben religiösen auch neue politische Publikationen der antisemitischen Harun-Yahya-Bewegung angeboten. Die Zentrale soll bald umziehen. Nach Kerpen. Die Organisation expandiert. Ein neun Hektar großer Bauplatz soll für zehn Millionen gekauft sein.
Die Islamische Gemeinschaft Milli Görüs (IGMG) wurde 1972 auf Anweisung des türkischen Islamistenführers Necmettin Erbakan gegründet. Das türkische Parteiengesetz verbietet den politischen Parteien jedoch Auslandsorganisationen. Anfang der 70er Jahre veröffentlichte Erbakan ein Buch mit dem Titel „Milli Görüs“, in dem er seine Strategie zur Errichtung einer islamischen Republik in der Türkei erklärt. Erbakan bestimmt seit fast 30 Jahren die Politik der Milli Görüs in Deutschland. Die Organisation zählt zu den finanziellen Trägern seiner Partei in der Türkei. Mit 60 bis 70 Millionen Mark soll sie 1995 Erbakans Wahlkampf in der Türkei „unterstützt“ und ihm damit den Wahlsieg ermöglicht haben.
„Die Islamische Gemeinschaft Milli Görüs setzt sich für die Abschaffung der laizistischen Staatsordnung in der Türkei ein und strebt in Westeuropa gesellschaftliche Verhältnisse an, die u.a. die Durchsetzung des islamischen Strafrechts nach den Vorschriften der Scharia ermöglichen soll. Der Verein wirkt so der gesellschaftlichen Integration der hier lebenden türkischen Muslime entgegen“, antwortete die Bundesregierung am 9.Mai 2000 auf die Anfrage der PDS-Fraktion über den Einfluss fundamentalistischer Organisationen (Drucksache 14/3290).
Erbakans Neffe, Mehmet Sabri Erbakan, hat in der islamistischen Bewegung die Zügel seit Jahren sicher in der Hand. „Der Onkel aus der Türkei“ tritt oft bei Veranstaltungen in Deutschland als „Stargast“ auf. Im April 1998 war von ihm vor einem Milli-Görüs-Publikum zu hören: „Die Regierenden sind nicht die Führer, sondern die Zionisten. Sie haben die Macht in unserem Land... Wir sind der Ansicht, die Juden haben die Häuser von Türken in Deutschland angesteckt, um Deutschland zu schaden.“
Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass kürzlich in Berlin bei einer von der radikal-islamischen, antijüdischen Hamas-Bewegung organisierten Demonstration junge Milli-Görüs-Funktionäre in vorderster Front marschierten. Auch der Auftritt der antisemitischen Harun-Yahya-Bewegung (alias Adnan Hodscha) in der Esslinger Milli Görüs Fatih Camisi darf da nicht mehr wundern.
„Wer sich der Jugend annimmt, der wird in Zukunft der Herr sein“, lautet ein Milli-Görüs-Spruch. Nach Erkenntnissen der Bundesregierung verfügt die Organisation über mehrere Erziehungs- und Bildungszentren. „Sie erzieht derzeit in der Bundesrepublik Deutschland in den in 350 Moscheen untergebrachten Kinder-Clubs mehr als 3000 Kinder im Alter von vier bis zwölf Jahren“, teilte die Bundesregierung auf die PDS-Anfrage am 9. Mai 2000 mit.
Ist Milli Görüs eine religiöse Organisation? „Hier geht es nicht um den Islam, sondern darum, Einfluss zu gewinnen und sich zu bereichern“, sagt ein Aussteiger. „Wer gegen die Führung der Organisation ist, wird als Feind des Islam denunziert.“ Die Rücklagen der drei Millionen Türken im Ausland schätzt man auf über 300 Milliarden Dollar - ob als Bankeinlagen oder im Sparstrumpf. An diesem „Goldschatz der Gastarbeiter“ sind viele interessiert. In erster Linie die rund 50 in Deutschland operierenden religiös orientierten Holdings. Diese Mischkonzerne bieten den Sparern an, für ihr Geld Anteile am Unternehmen zu erwerben, sich also an Gewinn und Verlust zu beteiligen.
Auch die Milli Görüs hatte jahrelang über ihre Holdinggesellschaft Anteile anderer Unternehmen vermittelt und verkauft. Das inzwischen in Konkurs gegangene Unternehmen wurde von einer anderen islamischen Holding aufgekauft, die nach der Übernahme die vierte Jahreshauptversammlung der Milli-Görüs-Bewegung in Amsterdam im Juni 1998 mit rund 1,3 Millionen Mark sponserte. Daraufhin stellte die Milli Görüs ihre Moscheen in Deutschland der Firma als „Geldsammelstelle“ für ihre Finanzdienstleistungen zur Verfügung. In den 90er Jahren entstand in der Türkei der neue islamische Wirtschaftssektor. Die Geschäftsleute des „Grünen Kapitals“ gründeten ihren eigenen Unternehmerverband Müsiad. Ihr Chef Erol Yasar musste allerdings nach einigen Jahren den Vorsitz abgeben, da gegen ihn Anklage erhoben wurde. „Wir müssen noch mehr arbeiten und noch reicher werden, um stärker als die Heiden zu werden“, erklärte er auf einer Konferenz in Istanbul. „Die Schätze Allahs müssen aus ihren Händen genommen werden...“ Die türkisch-muslimischen Unternehmer in Deutschland sind in Müsiad-Berlin, eine Außenstelle, organisiert. Milli Görüs will sie dominieren. Sie wird von dem früheren Milli-Görüs-Mitglied Ali Uzun geleitet.
Die Investitionen religiös orientierter Unternehmer erfolgen dort, wo der Ausländeranteil besonders hoch ist. „Vor allem auf das Getto hat Milli Görüs Einfluss“, meint der Kölner Journalist und Milli-Görüs-Kenner Ahmet Senyurt. „Wer diesen Einfluss hat, den umwerben die Politiker.“ Dass man aber damit nicht nur die Bildung von Gettos beschleunigt, sondern auch den Nährboden für islamistische Organisationen und Vereinigungen erzeugt, wird von deutschen Politikern leichtfertig übersehen.
In Köln-Nippes, unweit von der Milli-Görüs-Zentrale, oder in Mülheim kann man das hautnah erleben. An der Keuppstraße in Mülheim reiht sich ein türkisches Geschäft an das andere. „Hier ist alles fest in Milli-Görüs-Hand“, sagen die türkischen Bewohner des Kölner Vororts. Manch einer der hier gebliebenen 19 Prozent Deutschen verdiene sein Brot beim türkischen Arbeitgeber.Das Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg teilte am 14. November 2000 mit: „Auch wenn sich die Islamische Gemeinschaft Milli Görüs nach außen gern verfassungstreu und staatstragend gibt, so wird gerade unter dem Deckmantel der Diskussion um Toleranz gegenüber dem Islam in Deutschland extremistisches, sogar antisemitisches Gedankengut verbreitet.“ Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts dürfte Milli Görüs keine Chance haben, als Religionsgemeinschaft anerkannt zu werden.
Der Journalist Ahmet Arpad lebt seit vielen Jahren in Stuttgart und schreibt unter anderem für die Zeitung „Cumhuriyet“.