Stuttgarter Nachrichten,
16. März 2006
Gescheiterte Integration und
neue Parallelgesellschaft heizen Heiratsmarkt mit Frauen aus der Heimat
an / Von Ahmet Arpad
Stuttgart - „Die Unterscheidung zwischen
Ehen, die unter Zwang zu Stande kommen, und lediglich 'arrangierten Ehen'“,
bei denen beide Brautleute der elterlichen Wahl in freier Entscheidung
zustimmen, ist schwierig“, schrieb der frühere Bundesinnenminister Otto
Schily im Januar 2005.
In seinem Buch „Spagat mit Kopftuch“
äußerte der türkische Politikwissenschaftler Mehmet Özdemir: „Die Türken
versuchen, sich in der deutschen Gesellschaftsstruktur, die sehr oft in
einem krassen Gegensatz zu den ethischen Vorstellungen des Islam und der
türkischen Kultur steht, zurechtzufinden. Viele türkische Familien haben
große Schwierigkeiten, sich an die deutsche Lebensweise zu gewöhnen. Folge:
Sie schließen sich in eigenen Stadtteilen zusammen, in denen sie gettoartig,
vielfach unter schlechten Wohnraumverhältnissen, leben.“
Türkische Familien in Deutschland
werden immer religiöser, ziehen sich in die Parallelgesellschaft zurück,
organisieren sich in immer größer werdenden islamischen Vereinen und Verbänden,
die immer öfter von Politik und Kirche unterstützt werden. Es bilden sich
ethnische Gemeindeinseln, die Schutz bieten. Doch Gettos treten einen Teufelskreis
von Diskriminierungen los. Auf diesem Nährboden haben sich Fundamentalisten
verschiedener islamischer Sekten niedergelassen. Ihre Vereine sind die
einzigen, die Sozialdienste anbieten und im Bildungsbereich aktiv sind.
Vielerorts werden sie von den Kommunen mit Beiträgen in sechsstelliger
Höhe unterstützt.
Seit etwa zehn Jahren gibt es zudem
genügend Zeichen, dass es eine verstärkte Tendenz vor allem türkischer
Muslime gibt, ihre Religion auch nach außen zu leben. Fundamentalisten
haben ihre Chance erkannt. Der wachsende Einfluss dieser Organisationen
wirkt sich vor allem auf türkische Mädchen und Jungen aus. Denn für die
bundesweiten „Zentren“ der islamischen Vereine und Verbände geht es vorrangig
um Jugendarbeit. Die Moschee spielt nur eine Nebenrolle. Jungen und vor
allem Mädchen sollen islamische Werte vermittelt werden. Sozialarbeiter,
die mit ausländischen Jugendlichen arbeiten, stellen einen Rückzug in die
Familie und nationale Gruppen fest. Islamische Organisationen übernehmen
in immer stärkerem Maß die Rolle politischer Lobbyisten für „religiöse
Identität“.
Eine jahrelang falsch verstandene
Liberalität und Toleranz führte dazu, dass seitens der Islamisten - denen
es nicht um religiöse Überzeugung, sondern um Durchsetzung politischer
Ziele geht - weiter gehende Forderungen erhoben werden. Viele islamistisch
erzogene Migranten und Migrantinnen wollen mit der deutschen Gesellschaft
in der Regel nichts zu tun haben. Sie sprechen meist kein Deutsch. Die
Lebensweise der Deutschen wird vor allem von den überzeugt religiösen Musliminnen
verachtet. Die offene Gesellschaft scheint für sie keine Alternative. Sie
wenden sich den Traditionen zu. Umgekehrt verliert die deutsche Gesellschaft
den Zugang zu diesen Migranten. Der Islam ist und bleibt ihre Heimat -
in der Fremde eher noch mehr, als es in der Türkei der Fall gewesen ist.
Aber auch immer mehr Familien, die
nicht nach den Regeln des Islam, sondern nach den Traditionen und der Religion
ihrer Heimat leben, betrachten den Alltag in deutschen Großstädten als
gefährliches Pflaster und befürchten, vor allem ihre Töchter könnten ihrem
Einfluss entgleiten. Dann wird oft, wenn die Zeit reif ist, an eine arrangierte
Ehe gedacht. Sie gilt bei vielen türkischen und arabischen Eltern als traditionelles
Muster der Familienbildung und soll eine gute Versorgung der Töchter sichern.
Die meisten Familien, die sich in die Parallelgesellschaft zurückgezogen
haben, verheiraten ihre Kinder mit Kindern, die aus ihrer Region in der
Heimat stammen. So wird gewährleistet, dass die Tradition, die Normen und
Werte des Herkunftslandes erhalten bleiben. Unter den Türken betrifft das
vor allem die Kurden, die alevitischen oder arabischen Stämme an der Grenze
zu Syrien.
Es geht um das Wagnis, von einer
Welt in die andere zu wechseln. Das ist auch ein persönliches Problem.
Nach Jahren der Einbettung in die Familie sind die jungen Menschen plötzlich
auf sich gestellt. Das Ausbrechen aus dem gewohnten Kreis ist gerade für
junge Frauen kein leichter Schritt. Sie sind auf ein Leben außerhalb der
Familie meistens wenig vorbereitet. So machen ihnen das Auf-sich-allein-gestellt-Sein
und die Trennung vom alten Umfeld große Sorgen. Kritiker solcher Ehen behaupten,
eine arrangierte Ehe sei zwar keine Zwangsehe, aber die Grenze sei nicht
immer ganz klar - vor allem, wenn die zu Gehorsam und Scham erzogenen Töchter
kein klares Nein herausbringen. Betroffene Mädchen und junge Frauen, die
ständig im Konflikt zwischen den Wert- und Normvorstellungen des Elternhauses
und des deutschen Umfelds stehen, seien oft bereit, viele Freiheitseinschränkungen
und Verbote hinzunehmen.
Die gescheiterte Integration und
die dadurch entstandene Parallelgesellschaft sind auch Gründe dafür, warum
immer mehr unverheiratete türkische Männer eine arrangierte Ehe mit Frauen
aus ihrer Heimat vorziehen. Ein anderer Grund ist, dass in Deutschland
auf 100 unverheiratete türkische Männer nur 48 unverheiratete türkische
Frauen entfallen.
Der Erziehungswissenschaftler Ali
Uçar, der seit Jahren türkische Migrantenfamilien in Deutschland beobachtet,
geht davon aus, dass die Zahl der Zwangsheiraten und arrangierten Ehen
in der dritten Generation auf Grund unzureichender Integrationsmaßnahmen
weiter zunimmt.
Wenn über die Situation türkischstämmiger
Frauen berichtet wird, stehen fast immer Probleme oder Schreckensmeldungen
über Gewalt, Unterdrückung und Zwang im Vordergrund. Dabei weist die mehr
als 40-jährige Geschichte der türkischen Frau-en in Europa auch zahlreiche
Erfolge auf. So gibt es inzwischen in Europa sehr viele türkischstämmige
Politikerinnen, Unternehmerinnen und Schauspielerinnen. Viele dieser Frauen
verfügen über eine gute Schul- und Berufsausbildung. Dieser Erfolg wird
häufig übersehen.
Der Frauenanteil in der türkischen
Bevölkerung liegt derzeit bei 48 Prozent. Heute sind sie in allen Lebensbereichen
aktiv. Sie treten als Künstlerinnen und Politikerinnen, Ärztinnen und Anwältinnen,
Angestellte und Lehrerinnen auf. 22 Prozent aller türkischen Selbstständigen
sind mittlerweile Frauen. Vor allem in der dritten Generation steigt der
Anteil der Abiturienten sowie der Universitätsabsolventen kontinuierlich,
derzeit sind 39 Prozent aller türkischen Studierenden Frauen.