18 Temmuz 1997

Falsche Toleranz gegenüber Islamisten?

Stuttgarter Zeitung, 18.07.1997

Auch eine Gefahr für friedliches Zusammenleben / Von Ahmed Arpad

Ahmet Arpad lebt seit 25 Jahren in Stuttgart und arbeitet für die linksliberale türkische Tageszeitung „Cumhuriyet“. Im folgenden Beitrag beleuchtet er aus seiner ganz persönlichen Sicht einige zentrale Aspekte des Zusammenlebens zwischen Deutschen und Türken.


Es gab in Deutschland führende Politiker, die fest davon überzeugt waren, eine erleichterte Integration von Gastarbeitern würde die Einwanderung beschleunigen, und „Fremde“ würden das Vaterland überschwemmen. An eine Eingliederung der hier seit Generationen lebenden, gar geborenen Mitbürger hat man selten gedacht. Das Gegenteil ist geschehen. Man hat den Menschen, die längst in Deutschland ihren ständigen Lebensmittelpunkt gefunden haben, durch fehlende oder verfehlte Gesetze die Integration erschwert.

Die ablehnenden Signale aus den Reihen der Politiker, aber auch der Gesellschaft trieben und treiben immer noch die Kinder türkischer Mitbürger vermehrt in die Arme der nationalistisch oder islamisch orientierten Gemeinschaften. Enttäuscht von den „Ablehnungen“ der Gesellschaft will die zweite und dritte Generation ihre Identität betonen. Diejenigen, die dabei in der islamischen Religion Zuflucht suchen, geraten meistens in eine Falle, kommen vom Regen in die Traufe. Gefährdet sind in erster Linie die Kinder, die von ihren Eltern in die vielen Koranschulen geschickt werden. Diese Einrichtungen, vor allem von diversen islamistischen Sekten betrieben, ersetzen den fehlenden Religionsunterricht für muslimische Kinder in den deutschen Schulen. Die Einführung eines solchen Unterrichts ist eine äußerst prekäre Sache und muß im Vorfeld mit dem Grundgesetz vereinbart werden. Dann ist sie langfristig erfolgversprechend. Solange aber die Kinder in den Sekten-Koranschulen, unkontrolliert durch den Staat, einer „Gehirnwäsche“ unterzogen werden, bilden sie die Basis für den zukünftigen Nachwuchs dieser Sekten. Solche Ausbildungsstätten islamischer Extremisten werden in der Türkei inzwischen von den Behörden geschlossen. Erfolgversprechende Maßnahmen zur bundesweiten Einführung eines wertefreien Religionsunterrichts für muslimische Kinder sind zwingend erforderlich. Auch eine multikulturelle Erziehung in Kindergarten und Schule ist in diesem Zusammenhang ein weiterer Baustein für die Identitätsfindung und das Gelingen des Zusammenlebens. Hier sind vor allem die Kultusminister der Länder gefordert.

In den 90er Jahren wurde Deutschland von verschiedenen islamisch orientierten Gemeinschaften, die sich meist „Muslimvertreter“ nannten, beinahe überschwemmt. Die laizistisch denkenden, wahren Muslime sind ihre einzigen „Angstgegner“. Sie werden als „Gottlose“ beschimpft, als „Nicht-Muslime“ abgestempelt. Diese gefährliche Entwicklung zeigt erstaunliche Parallelen zu den Bemühungen der sogenannten Islamisten in der Türkei, die inzwischen aus ihrem Wunsch, das Grundgesetz gegen den Koran zu tauschen, keinen Hehl mehr machen.

Die Zusammenarbeit mit dem „verlängerten Arm“ in Deutschland funktioniert bestens. Besuche des islamistischen Regierungschefs Erbakans und anderer „Funktionäre“ seiner Refah in der Kölner Zentrale der deutschen Islamisten sind nicht selten, wie auch Spendenüberweisungen - meistens auf indirektem Wege - von Köln in Richtung Ankara. „Wir müssen unsere gemeinsame Kraft daran setzen, diese ,Sklavenordnung' zu stürzen und dafür den Gottesstaat errichten.“ Schon dieser Auszug aus einer Rede Erbakans in Köln vor einigen tausend Mitgliedern der „Vereinigung der Neuen Weltsicht in Europa e. V.“ (AMGT), dem größten, vom Bundesverfassungsschutz als „extremistisch“ eingestuften islamischen Verein, zeigt, wie eng die beiden Organisationen miteinander verknüpft sind.

Anzumerken ist, daß die AMGT 1985 von Erbakan-Gefolgsleuten und einem nahen Verwandten von ihm gegründet wurde. Nach Auflösung der AMGT im Mai 1995 entstand die „Islamische Gesellschaft Nationale Sicht“ (IGMG), die insbesondere die Aufgabe hat, sich der politischen Belange der ehemaligen AMGT-Mitglieder anzunehmen. Nach geltendem deutschen Recht aber ist den Vereinen jegliche politische Betätigung und Verbindung zu den politischen Parteien untersagt. Erstaunlicherweise werden die integrationsfeindlichen Aktivitäten vieler islamischen Vereine, Sekten und religiösen Gemeinschaften meistens geduldet. Inzwischen sind Verbindungen der IGMG zur Scientology-Sekte und zu radikalen Islamisten in Holland, Belgien, Frankreich, Ägypten, Libanon und Libyen bekannt geworden. Die Zusammenarbeit „Sekten - Politik - Geschäftemacherei“ funktioniert immer und überall.

Einerseits reden alle von der Integration, vom gemeinsamen, friedlichen Zusammenleben, andererseits aber werden vor Gefahren meist beide Augen zugedrückt. Es ist daher kein Wunder, daß diese „Herrschaften“ bei solcher Gleichgültigkeit leichtes Spiel mit ihren Landsleuten in Deutschland haben. „Wir machen uns schon Gedanken“ ist der allgemeine Tenor der Bonner Politiker. „Wir haben Angst vor dem radikalen Islam, aber auch davor, als Religionsfeinde abgestempelt zu werden.“ Unverständlich. Die Gefahr, die von den Islamisten ausgeht, ist nicht nur für die Türkei groß. Wenn die Zurückhaltung der Politiker, Behörden und Medien so weitergeht, dann ist das friedliche Zusammenleben ernsthaft in Gefahr. Auch in der Türkei hat der radikale Islam jahrelang die Demokratie als „Schutzmantel“ ausgenützt. Nun hat er sich fest vorgenommen, sie zu stürzen.

Ein anderes deutsch-türkisches Thema beschäftigt derzeit inbesondere die Jungpolitiker in sämtlichen Bonner Parteien. Es geht um die doppelte Staatsangehörigkeit. Hier spürt man, daß etwas im Gange ist. Endlich. Das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz aus dem Jahr 1913 ist mehr als veraltet, auf seiner Grundlage sind die Probleme der 90er Jahre nicht zu lösen. Dies haben die jungen Politiker erkannt. Nach unendlich langen Jahren des Schweigens und Verdrängens fordern sie nun von ihren Parteioberen die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts. Auch über die deutsche Staatsangehörigkeit für Kinder ausländischer Eltern wird diskutiert. Der allgemein favorisierte Vorschlag ist allerdings eine zeitlich begrenzte doppelte Staatsbürgerschaft.

Kann man von einem Jungen türkischer Eltern erwarten, sich bei Volljährigkeit für eine der beiden Staatsangehörigkeiten zu entscheiden? Die meisten Jugendlichen in diesem Alter leben sehr gerne in Deutschland, fühlen sich wohl hier, sind aber auch mit der Heimat der Eltern sehr verbunden, mögen die türkische Mentalität. Nach dem Wunch der Bonner Regierenden müßten sie mit 16 oder 18 Jahren einen der Pässe wieder zurückgeben. Von jungen Menschen eine derartige Entscheidung zu verlangen, wäre inhuman. In dieser Form hätte das neue Gesetz nicht den erwünschten Erfolg. Den Jugendlichen sollte diese Entscheidung freigestellt werden. Vergißt man, daß bei unseren Nachbarn die doppelte Staatsangehörigkeit erlaubt ist?

Laut Umfragen sind 38 Prozent der Deutschen gegen eine doppelte Staatsbürgerschaft für ausländische Mitbürger. Die Forderung, Ausländern das Kommunalwahlrecht zu geben, die auch Bundesaußenminister Klaus Kinkel neulich erhob, wird hingegen von 76 Prozent der befragten Deutschen unterstützt. In der Tat hätte man den ausländischen und damit auch den türkischen Mitbürgern - mit Abstand die größte ausländische Bevölkerungsgruppe in Deutschland - das Kommunalwahlrecht schon lange einräumen müssen. Dieses vorzuenthalten war und ist mit den Prinzipien des demokratischen Systems nicht vereinbar. Es ist auch nicht einzusehen, warum Menschen, die die letzten 40 Jahre der Republik eindeutig mitbestimmt haben, nicht an die Urne gehen dürfen. Es wäre doch durchaus „demokratisch“, wenn der türkische Mitbürger auch den Politiker wählen dürfte, der über ihn bestimmt. Dies kann er in Holland und Schweden schon lange. Vielleicht rüttelt Kinkels Vorstoß auch die Parteien in der Opposition wach. Diese hat jahrelang nur Kritik - darunter auch berechtigte - in Richtung Ankara geschickt. Wenn es aber um die Interessen der über zwei Millionen Türken in Deutschland ging, hat sie selten den Mund aufgemacht. Diese waren ja keine Wähler! Ein demokratischer Beitrag aus Bonn zum friedlichen Zusammenleben muß endlich kommen. Warum nicht schon 1998?

7 Mayıs 1997

Die Deutschland-Türken - ein Spielball der Politik

Stuttgarter Zeitung, 07.05.1997

Das friedliche Zusammenleben ist in Gefahr / Von Ahmet Arpad

Das Verhältnis zwischen Deutschland und der Türkei ist abgekühlt. Aber nicht nur die Beziehungen zwischen den Staaten sind kälter geworden. Jüngst hat beispielsweise der „Spiegel“ vom Scheitern der multikulturellen Gesellschaft in Deutschland geschrieben. Die „Stuttgarter Zeitung“ hat Ahmet Arpad, einen türkischen Journalisten, gebeten, einmal seine - von der Redaktion der StZ unabhängige - Sicht des gegenseitigen Verhältnisses aufzuschreiben. Arpad, der am Deutschen Gymnasium in Istanbul Abitur machte und Germanistik studierte, lebt seit 25 Jahren in Stuttgart und arbeitet für die linksliberale türkische Tageszeitung „Cumhuriyet“.


Der türkische Döner-Kebab erlebt im Land zwischen Konstanz und Rostock einen unaufhaltsamen Siegeszug. Tag für Tag werden davon 300 Tonnen vertilgt. In 10000 Döner-Buden geben die türkischen Inhaber 45000 Menschen Arbeit und setzen jährlich 4,3 Milliarden Mark um. Der türkische Fleischspieß hat es geschafft. Er wurde in die deutsche Gesellschaft integriert.

Das gleiche „Schicksal“ ist aber den Türken immer verwehrt geblieben. Die Integration der Deutschland-Türken hat nie stattgefunden. Sie hat nie eine Chance bekommen. Solange es der Wirtschaft gutging, lebte man friedlich nebeneinander, manchmal sogar miteinander. Heute kann man nicht von einer „gescheiterten Integration“ reden, weil es sie noch nie gab. Keiner hatte sich jemals ernsthaft darum bemüht.

Die über zwei Millionen Türken bestimmen heute wie schon seit Anfang der Sechziger das deutsche Leben mit. Sie sind inzwischen keine Gäste mehr, sondern Mitbürger. 42000 türkische Unternehmer beschäftigen fast 200000 Menschen, investieren jährlich über acht Milliarden Mark und setzen 35 Milliarden Mark um. An deutschen Unis studieren rund 16000 Kinder türkischer Arbeitnehmer.

Allerdings hat das friedliche Zusammenleben von einst zwischenzeitlich tiefe Risse bekommen und ist nun in Gefahr, vollends zusammenzubrechen. Seit dem Ende des deutschen Wirtschaftswunders macht sich ein deutlicher Anstieg der sozialen Konflikte bemerkbar. Es ist kein Zufall, daß in den neunziger Jahren die Zahl beschämender Übergriffe gegen Türken im Westen wie im Osten sprunghaft in die Höhe schnellte. Auch hier haben die verantwortlichen Politiker in Bonn wie in Ankara versagt. Die Luft zwischen den Hauptstädten wurde zeitweise sogar sehr dünn, Probleme häuften sich.

Zuerst kam die Sache mit der PKK. In dieser vom benachbarten Ausland aus operierenden Terrororganisation wollten vor allem Politiker der roten und grünen Farbe und viele unzureichend recherchierende Medienvertreter „Freiheitskämpfer eines unterdrückten Volkes“ sehen. Die Türken Deutschlands erfuhren von diesen Besserwissern, daß es in der Türkei einen „Bürgerkrieg“ und einen „Völkermord an Kurden“ gibt! Diese Herren, die glaubten die Anliegen einer radikalen Gruppierung vertreten zu müssen, waren sich anscheinend nicht bewußt, daß sie in Wirklichkeit den Frieden im eigenen Lande und das Zusammenleben der Türken und Kurden gefährdeten. Es wurde jahrelang ein fehlerhaftes Bild von der Türkei in der deutschen Öffentlichkeit gezeichnet, und die Türken hierzulande waren wieder die Leidtragenden.

Kaum dachte man, auch diese Spannungen wären überstanden, kamen schon die nächsten. Zuerst die arroganten Äußerungen der christlichen Regierungschefs über die Türkei, dann die dummen Worte aus Ankara. Es ging wieder einmal um die EU-Mitgliedschaft, um Kinkels Besuch und um die Brandkatastrophe in Krefeld. Medien beider Länder heizten natürlich den Konflikt wieder kräftig an. Vor allem die türkische Boulevardpresse ging mit großen Lettern auf Leserjagd. Es wurde viel Porzellan zerschlagen und noch mehr Öl ins Feuer geschüttet. Die Deutschland-Türken wurden wieder zum Spielball.

Das Duo Çiller und Erbakan will das Land mit allen erlaubten und unerlaubten Methoden unbedingt in die EU steuern. Çillers Partner und Widersacher in einer Person, der Islamist Erbakan, vertritt interessanterweise dieselbe Meinung wie der Christ Kohl. Beide nämlich wollen die Türkei nicht in der EU sehen und könnten sie eigentlich mit einer gemeinsamen Strategie von Europa fernhalten! Die Türkei ist aber längst in Europa fest „verankert“. Das türkische Volk steht dem Kontinent näher als manch osteuropäischer Staat. Das Land am Bosporus ist, trotz mancher Rückschläge der letzten Jahre, ein stabiler Faktor in einer wichtigen und unruhigen Region. Man sollte auch nicht übersehen, daß 24 Prozent der türkischen Exporte nach Deutschland und 51 Prozent in die EU-Länder gehen.

Die junge türkische Generation - immerhin die Hälfte der Bevölkerung ist jünger als 25 - entwickelt ein Selbstbewußtsein, das für Europa neu ist. Die Hoffnung vieler Türken ruht inzwischen auf der Dynamik dieser jungen Leute. Ob die Türkei mit einer klugen Innen- und Außenpolitik die Europäische Union Anfang des 21. Jahrhunderts immer noch attraktiv findet?

Derzeit aber erlebt das Land unübersehbare Bemühungen der Islamisten, die sich eine Abkehr der Türkei von Europa zum Ziel gesetzt haben. Ihnen kommt daher jede „türkeifeindliche“ Äußerung sehr entgegen. Auch die derzeitige Türkeipolitik Deutschlands und die steigenden Alltagsprobleme der enttäuschten Türken hier „erfreuen“ die Herren in Ankara.

Nach dem Scheitern der Integration und dem deutlichen Anstieg der sozialen Konflikte ist ein starker Zulauf vieler „Enttäuschter“ zu den fundamentalistisch orientierten Vereinen und Sekten bemerkbar. Diese inzwischen auch vom Bundesverfassungsschutz als extremistisch eingestuften Islamisten nehmen sie mit offenen Armen auf. Da ist der Islam die „rettende“ Ideologie; Tradition, Nationaldenken und Religion sind „Zufluchtsorte“.

Die steigende Zahl der Moscheen, der Gebetsräume (über 2000!) und der Frauen mit Kopftüchern im deutschen Alltag ist erschreckend, aber kein Zufall. Die vielen Zugeständnisse der letzten Jahre können die Regierenden nicht mehr rückgängig machen. Auch die kopftuchtragende mohammedanische Lehrerin vor deutschen Schulkindern ist ein Sieg für die sogenannten Islamisten. Mit großzügigen Spenden werden „die Kämpfer Allahs“, die Fundamentalisten, in der Türkei unterstützt. Gemeinsam wird am Umsturz der türkischen Demokratie, des Laizismus und Kemalismus gearbeitet. Die Grundmauern der Republik wackeln. Die Gründung eines Gottesstaats wird herbeigesehnt. Die Verantwortlichen in Deutschland wollen eine Gefahr durch diese islamistischen Extremisten nicht sehen. Für sie fällt deren Tätigkeit unter Artikel 4, „Religionsfreiheit“! Unverständlich. Oft werden beide Augen zugedrückt, und der radikale Islam unterwandert bei seinem Vormarsch die türkische Gesellschaft in Deutschland langsam, aber sicher.

Beide Seiten sollten alles daran setzen, das friedliche Zusammenleben wieder herzustellen. Allerdings ist nur mit einem erleichterten Einbürgerungsverfahren nicht viel getan. Über zwei Millionen Menschen sind kein „Spielball der Politik“. Man sollte daher nicht davon ausgehen, daß sie für den Erwerb eines Stücks Papier ihre Identität mit abgeben, sogar ihre Mentalität ändern. Andere Auswege sind dringend gefragt. Es gibt sie nämlich.