Stuttgarter Nachrichten, 05.04.2000
Fundamentalisten unterlaufen die Integration von türkischen Jugendlichen in Deutschland / Von Ahmet Arpad
Stuttgart - "Die Moschee, ein Symbol des deutsch-türkischen Zusammenlebens" - eine absurde Vorstellung. Wer damit "hausieren" geht, sich für immer neue Moscheen stark macht, ist naiv. Die Praxis und die Erfahrung, sei es in Berlin, Duisburg, Köln oder Stuttgart, belehrt uns eines Besseren.
Es ist verständlich, wenn ausländische Menschen aus nachbarschaftlichen Gründen zusammenziehen. So bilden sich ethnische Gemeinden, Inseln, die Schutz bieten. Doch Gettos treten auch einen Teufelskreis von Diskriminierungen los. Auf diesem Nährboden haben sich Fundamentalisten verschiedenster islamischer Sekten niedergelassen. Ihre Vereine sind inzwischen die Einzigen, die sich um die in Gettos lebenden Türken kümmern, Sozialdienste leisten und im Bildungsbereich aktiv sind. Vielerorts werden sie sogar von den Kommunen für ihre Dienste mit Beträgen in sechsstelliger Höhe unterstützt.
Für die Stadtoberen sind die Menschen bei ihnen "in guten Händen". Die Mutter lernt Deutsch, die Tochter bekommt Hausaufgabenhilfe. Bei der Firma der Organisation findet der lange arbeitslose Vater wieder Arbeit, der Sohn nach der Hauptschule eine Lehrstelle. Alle sind glücklich. Am glücklichsten aber sind die Fundamentalisten.
Den deutschen Verfassungsschützern zufolge spielen sie allerdings eine Doppelrolle. Einerseits präsentieren sie sich in der Öffentlichkeit als unpolitische Vertreter des Islam, andererseits aber betreiben sie vor allem in den Gettos Eigenpropaganda. Die Frage bleibt: Mit welchem Ziel? Studien wie die neue Arbeit von Rainhard Hocker, Jugendliche in islamischen Organisationen, zeigen, dass sich der wachsende Einfluss bestimmter Organisationen vor allem auf türkische Jugendliche auswirkt. Die Fundamentalisten haben ihre Chance erkannt. Dieses vernachlässigte gesellschaftliche Feld in den Gettos bearbeiten sie gezielt. Inzwischen gibt es in Deutschland fast die gleichen Verhältnisse wie in den Gettos der 12-Millionen-Metropole Istanbul. Dort kümmern sich die Vertreter des politischen Islam um die, die der Staat vernachlässigt. Sie streben durch aktive Tätigkeiten gesellschaftliche und politische Veränderung an.
Für die islamischen Organisationen in Deutschland haben die Muslime hier ihr zuhause und müssen nach den Regeln der Scharia leben können. Sie betrachten Europa als Gebiet des Islam und meinen, dass für die Menschen islamisierte Räume geschaffen werden sollten - ob für eine Schulklasse oder ein ganzes Stadtviertel. In Deutschland bekennen sich die Islamisten nach außen zum Grundgesetz. Nach innen aber gilt das Gesetz der Scharia. Nicht selten ziehen Spitzenfunktionäre die Mehrehe vor. Sind solche Dialogpartner glaubwürdig?
Die islamischen Organisationen repräsentieren zwar laut Verfassungsschutz nur zehn Prozent der türkischen Bevölkerung - Tendenz steigend - , dürfen aber in Deutschland die meisten Moscheen und "islamischen Kulturzentren" errichten. Sie vertreten verschiedenste islamische Sekten und sind untereinander oft zerstritten. Sie haben allerdings ein gemeinsames Ziel: die Islamisierung in Deutschland, um die Errichtung einer islamischen Staatsordnung in der Türkei zu erreichen.
Die streng hierarchisch gegliederte Organisation der Süleymanci mit rund 20000 Mitgliedern unterhält eigenen Angaben zufolge 320 "islamische Kulturzentren". Hier werden 60000, vor allem türkische Knaben und Mädchen, nach der Lehre des Süleyman Efendi erzogen. Jahr für Jahr werden junge Menschen als Elite-Muslime in die deutsche Gesellschaft entlassen - mit deutschem Pass und Süleymanci-Identität.
Das Programm des Verbands Islamischer Kulturzentren (VIKZ), der im Stuttgarter Stadtteil Heslach eine Moschee und ein islamisches Zentrum samt Wohnungen und Schülerwohnheim errichten will, sieht vor, die Islamisierung in Deutschland durch Ausweitung von Koranschulen und Bildungseinrichtungen zu erreichen. Diese Meinung vertritt auch der Kulturanthropologe Werner Schiffauer in seinem neuen Buch "Die Gottesmänner".
Der Süleymanci-Orden, zu dem der VIKZ gehört, ist ein Abkömmling der im 14. Jahrhundert gegründeten Naksibendi-Sekte. Gebetet wird nur hinter einem Vorbeter, gegessen wird nur das von eigenen Metzgern geschächtete Fleisch. Der Gründer des Ordens, Süleyman Hilmi Tunahan, ist für sie: "Unser Größter, unser Heiliger." Über ihre Lerninhalte weiß man wenig. Es gibt keine Publikationen, die Aufschluss über ihre Glaubensrichtung geben. Ihre Zeitschrift "Anadolu" mussten die Süleymanci nach antichristlichen und antijüdischen Attacken 1980 einstellen. Sie verstehen sich als die wichtigsten Bewahrer des Islam und glauben, dass nur 300000 Muslime, allesamt Süleymanci, auserwählt seien, ins Paradies zu gelangen.
Was der VIKZ in Heslach genau vorhat, weiß man nicht. Sowohl beim ersten großen Treffen im Rathaus als auch am runden Tisch vor kurzem, gingen seine Vertreter mit Informationen sparsam um. Ihr Konzept haben sie bis heute nicht eindeutig dargelegt. Auch das Süleymanci-Internat in der Mannheimer Pettenkoferstraße mit Klassenräumen für rund 200 Jugendliche ist ein Buch mit Siegeln.
Die bundesweiten "Kulturzentren" dienen neben religiösen Zwecken vor allem der Jugendarbeit. Die Moschee spielt nur eine Nebenrolle. Auch in Stuttgart geht es vorrangig um Jugendarbeit. Nach eigener Angabe sollen jungen Leuten islamische Werte vermittelt werden. Die Süleymanci aus Köln arbeiten in Heslach mit den Nurcu aus Stuttgart zusammen. Ihr hiesiger Partner ist die Religionsgemeinschaft des Islam von der Gemeinschaft Jama’at un Nur, diese wiederum ist ein wichtiges Mitglied im Islamrat.
Die Süleymanci dagegen sind im Zentralrat der Muslime (ZMD) vertreten. Der Generalsekretär des ZMD ist gleichzeitig Generalsekretär des VIKZ. Der Zentralrat, der angeblich von Saudi-Arabien aus über die Islamische Weltliga finanziert werden soll (siehe "Moslemische Revue" 4/94, S. 278), pflegt sehr gute Kontakte zum Islamrat. Beide möchten als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt werden und auch den muslimischen Kindern in den deutschen Schulen Religionsunterricht erteilen. Die Milli Görüs dominiert den Islamrat und ist laut diverser Gerichtsbeschlüsse und Verfassungsschutzberichte aller Bundesländer "eine Organisation, die eine radikal-muslimische Geistesrichtung vertritt". Die Verhältnisse sind verstrickt.
Moscheen und Gebetshäuser gibt es in Stuttgart mehr als genug. Sie werden schlecht besucht. Voll sind die Moscheen nur an bestimmten Tagen des Jahres. Selbst freitags sind sie nicht ausgelastet. Bekanntlich muss im Islam der Gläubige zum Beten nicht unbedingt in die Moschee gehen. Er darf überall beten. Zu fast jeder Moschee wird seit kurzem auch ein "islamisches Bildungs- und Kulturzentrum" gebaut. Hier sollen die Erwachsenen von morgen nach den Lehren der "Großen vier - Süleyman Efendi, Said-i Nursi, Fetullah Gülen oder Necmettin Erbakan - gebildet werden.
Unsere Gesellschaft aber braucht europäisch denkende, tolerante und offene Menschen. Deutsche, Türken, Deutschtürken.